Innovation Mining

1. Hintergrund und Herausforderung

Stellen Sie sich vor, Sie sind ein führendes Unternehmen in der chemischen Industrie, einer besonders F&E-intensiven Branche. Ihr Team besteht aus sehr klugen und kreativen Köpfen, die ausgewiesene Spezialisten für die Bereiche der Kosmetikwirkstoffe, Additive für Nahrungsmittel, Pharma, Membranen, Verbundwerkstoffe oder Elektronikmaterialien sind. Sie haben somit das gesamte Wissen für die erstaunlichsten und verblüffendsten Produktlösungen vor Ort – Superabsorber in Windeln ist hier nur eines von vielen Beispielen. Doch welche sind eigentlich die aussichtsreichsten neuen Entwicklungen und die dazugehörenden Probleme? Wie kann man die F&E-Fähigkeiten einer Branche, die aufgrund der Wertschöpfungsdistanz weit entfernt vom Endkunden agiert, offensiver an den Bedürfnissen und Anforderungen der letztendlichen Anwender außerhalb der eigenen Fabriktore ausrichten?

Auf der einen Seite stehen uns im Internet immer mehr userzentrierte und usergenerierte Quellen zur Verfügung. Hierzu gehören z.B. Social Media Plattformen, Diskussionsforen, Instant-Messaging Dienste, Ideenwettbewerbe, Crowdfunding Plattformen und andere Formen von Online Communities. Auf der anderen Seite gibt es enorme Fortschritte im Bereich des Natural Language Processing sowie der semantischen Inhaltserschließung, auch bekannt als das Semantic Web, was uns erlaubt, die in menschlicher Sprache ausgedrückten Informationen im Web immer besser computergestützt zu verarbeiten. Beides zusammengenommen ist eine mächtige Möglichkeit, die im Web repräsentierten Stimmen sowie die Wünsche der Abermillionen Anwender mit dem Lösungswissen F&E-intensiver Branchen besser in Einklang zu bringen. Diese Zusammenführung von Technologielösungen mit Anwenderproblemen ist die Grundidee des „Innovation Mining“, das als neuartige Methode im Rahmen des vorliegenden Papers erstmalig vorgestellt werden soll. Ähnlich wie das verwandte und bereits etablierte Feld des „Opinion Mining“ zur dauerhaften Analyse von Nutzerbeiträgen aus Social-Media Plattformen, ist das „Innovation Mining“ dem akademischen und interdisziplinären Forschungsfeld zugeordnet, das Information Retrieval (IR), Natural Language Processing (NLP) und Text Mining mit unterschiedlichen Schwerpunkten bearbeitet (Lütters, Egger 2013).

2. Die Methode des Innovation Mining

Innovation Mining ist eine Form der Social Media Analyse, die speziell auf Fragestellungen der Innovationsforschung ausgerichtet ist. Übliche Social Media Monitoring Techniken werden maßgeblich in den Bereichen der Markenwahrnehmung, Medienwirkung, Krisenerkennung, Social-CRM oder des Kampagnen- und Reputationsmanagement eingesetzt. Bei dem Ansatz des Innovation Minings steht hingegen im Vordergrund bestehende Anwenderprobleme mittels semantischer Algorithmen zu identifizieren und diese mit der Lösungskompetenz eines Unternehmens zu matchen. Das Motto lautet „Technologie sucht Anwendung“. Eigentlich eine altbekannte Herausforderung des Technologietransfers (Walter 2003; Bräutigam & Gerybadze 2011), die durch das Innovation Mining eine neue Herangehensweise erfährt, um anwendungsorientierte Innovationsfelder zu identifizieren und zu erschließen.

Die Verarbeitung der riesigen Mengen an Anwenderbeiträgen im Web ist den nicht-reaktiven Verfahren zuzuordnen, d.h. es besteht kein Einfluss des Messvorgangs auf die Reaktion der Untersuchungspersonen. Der Vorteil der erhobenen Daten besteht somit darin, dass diese als Folge des „alltäglichen“ Verhaltens von Menschen entstanden sind, ohne den Hintergrund als Daten für die sozialwissenschaftliche Forschung verwendet zu werden. Als mögliche Limitation ist anzuführen, dass nur die Daten verwendet werden können, die online zur Verfügung stehen. Das Innovation Mining bedient sich dem technologischen Kernprozess der nicht-reaktiven Webanalyse. Diese kann in Anlehnung an Lütters & Egger (2013) sowie Egger& Lang (2013) in die Phasen „Datensammlung“, „Datenanalyse“ und „Visualisierung“ unterteilt werden (siehe Abbildung 1). Eingerahmt werden diese Schritte der reinen Datenverarbeitungstechnik von den Prozessphasen, die spezifisch für den Kontext „Innovation“ zugeschnitten sein müssen. Dies ist zum einen die Entwicklung der Suchstrategie zur Aufdeckung von Innovationsfeldern, sowie die Interpretation der Daten vor dem Hintergrund der Eignung für die Neuproduktentwicklung.

Abbildung 1: Fünf-Stufen Modell des Innovation Mining

2.1 Suchstrategie

Als B2B-Anbieter trägt man mit seinem Angebot zu einer ganzheitlichen Lösung bei, die sich erst in weiteren Wertschöpfungsstufen durch Kombination mit anderen Teilleistungen entfaltet. Die eigene Leistung ist dabei häufig in unterschiedlichsten Endprodukten integriert. Die oben bereits erwähnten Superabsorber finden sich z.B. in Produkten wie Windeln, Tiefseeleitungen, Löschmitteln oder als Stabilisator für Schnittblumen. Das Innovation Mining bietet nun die Möglichkeit, den online verfügbaren User-Generated Content (UGC) als konsumentenzentrierte Quelle zur Identifikation von neuen Einsatzfeldern und Anwendungsgebieten systematisch zu nutzen. Die richtige Suchstrategie ist hierbei entscheidend und wesentlicher diffiziler als beispielsweise die Suche nach dem Markenimage, die vorwiegend durch den Markennamen bestimmt ist. Im Bereich der Innovation kann die Suchstrategie entlang der Werkstoffe, chemischen Eigenschaften, physikalischen Eigenschaften, Funktionen, Technologien, Ursache-Wirkungsketten, Lösungsprinzipien, Produktfamilien, Prozessschritten, Anwendungsfeldern, Vertriebskanälen und anderer spezifischer Merkmale entwickelt werden. Diese Merkmale stellen den Ausgangspunkt der Datensammlung relevanter nutzergenerierter Inhalte dar. Um Beiträge idealerweise ausschließlich aus relevanten Kontexten in möglichst ausschöpfendem Umfang (mutually exclusive and collectively exhaustive) zu identifizieren, werden die Merkmale in Suchstrings überführt. Typischerweise werden in Suchstrings direkte Suchworte (d.i. Merkmale) durch boolesche Operatoren mit kontextverwandten Suchworten verknüpft, während kontextfremde Worte ausgeschlossen werden.

Beispiel zum Aufbau eines Suchtstrings:

((Merkmal 1 OR Merkmal 2 … OR Merkmal n) AND (kontextverwandtes Wort)) ANDNOT (kontextfremdes Suchwort)

2.2 Datensammlung

In der zweiten Stufe, die auch als Web Crawling bekannt ist, geht es um die Identifikation, Sammlung und Extraktion der Daten, die ein bestimmtes Informationsbedürfnis -hier der eingesetzte Suchstring- erfüllen sollen. Einige Online Portale wie z.B. Facebook oder Twitter bieten Schnittstellen an, über die relativ komfortabel auf die verfügbaren Daten zugegriffen werden kann. Diese Zugänge sind als APIs (Application Programming Interfaces) bekannt und können unterschiedlich konfiguriert sein, um beispielsweise uneingeschränkt auf alle Daten zurückgreifen zu können oder nur beschränkt, z.B. auf öffentlich sichtbare Daten. Im Rahmen des Innovation Minings hat sich allerdings gezeigt, dass die komplexere Datensammlung über Plattformen ohne APIs maßgeblich ist. Dies liegt daran, dass die relevanten Inhalte meist auf Foren, Blogs und anderen Social Media Portalen zu finden sind, die nicht den breiten Massenkommunikationskanälen wie Facebook oder Twitter zuzuordnen sind. Im Anschluss werden Web Crawler, Web Scraper und/oder Vision-based Page Segmentation (VIPS) eingesetzt, die es ermöglichen, nach bestimmten Regeln HTML (Baum-)Strukturen oder die visuelle Segmentierung der Website zu erfassen (Egger & Lang 2013). So können beispielsweise im Rahmen von Online-Blogs gezielt User-Kommentare, meist am Ende der Seite positioniert, ausgelesen werden. Die angewandten Regeln sind teilweise hoch ausgeklügelte Algorithmen, die mitunter sogar das menschliche Suchverhalten, wie es durch Anwender bei der Verwendung von Suchmaschinen eingesetzt wird, simulieren. Für die Bereinigung der Daten sowie für die Trennung von UGC (z.B. Blog, Comment, Forum, Produktrezensionen, Frage-Antwort Portale, Wiki-Einträge) und anderen Texttypen (z.B. redaktioneller Text, Werbetexte, journalistische Beiträge, Corporate News etc.) werden im Anschluss weitere Maschinenlernverfahren eingesetzt, die nach einer Anlernphase den Text eigenständig klassifizieren können.

 

2.3 Datenanalyse

Die gesammelten Äußerungen, Erfahrungsberichte oder Produktrezensionen werden mit Methoden des NLP zunächst in einzelne Wörter, Wortgruppen und Sätze unterteilt. Anschließend werden mit Methoden der Information Extraction (IE) jene Worte und Phrasen bestimmt, die semantisch in den Texten einen höheren Stellenwert einnehmen. Diese Worte und Phrasen können unter Zuhilfenahme von aspektorientierter Sentimentanalyse mit Tonalitäten versehen werden und Assoziationen repräsentieren. Als positive, neutrale oder negative Assoziationen stehen diese zueinander in Beziehung und bilden Assoziationsnetzwerke mit unterschiedlich starken Verbindungen. Im Zusammenhang mit Innovation können dies Werkstoff- oder Produktbezeichnungen, Produkteigenschaften, Anwendungsgebiete, Anwendungsprobleme oder Technologien sein, die erfasst werden. Für die tiefergehende Analyse können eine Reihe von Verfahren parallel angewendet werden. Die Buzz-Analyse erfasst das relevante Gesprächsaufkommen unter anderem auch als Zeitverlaufsbetrachtung. Die Dokumenten-orientierte Sentiment- oder auch Stimmungsanalyse erfasst die Tonalität und ermöglicht die Klassifizierung der Beiträge als positiv, negativ oder neutral. Die Netzwerkanalyse erfasst Relationen zwischen den Datensätzen (z.B. welche Personen oder Links zwischen Webseiten sind untereinander verknüpft). Diese Bezüge werden in Netzwerkgraphen dargestellt. Weitere wertvolle Analysevarianten entstehen durch die Berücksichtigung von Änderungen im Zeitverlauf, durch die Gegenüberstellung von Äußerungen im Rahmen von Benchmarkanalysen (Lütters & Egger 2013), durch Demographie- und Profilanalysen, durch Treiberanalysen oder durch Themenexploration (auch Keyword-Extraction oder Topic-Networks).

2.4 Visualisierung und Interpretation

Ein weit verbreitetes Visualisierungskonzept im Bereich der Social Media Analyse sind Dashboards, die gleichzeitig unterschiedliche Analyseergebnisse darstellen. Die Darstellung kann als Liniendiagramm, Balkendiagramm, Kreisdiagramm, Bubble-Chart, Netzwerkgrafik, Listen, Tag-Cloud oder einer Vielzahl an weiteren visuell aufbereiteten Varianten dieser Grundformen dargestellt werden. Die visuelle Gestaltung soll die Analyse „auf einen Blick“ als auch die Tiefenanalyse in Form interaktiver Darstellungen oder Drilldown Funktionalitäten fördern. Die Kreativität der Darstellung eröffnet häufig eine neuartige Perspektive auf einzelne Informationsblöcke, die in einfachen Listen häufig nicht zu transportieren ist. Es entsteht also eine sehr enge Beziehung zwischen Visualisierung und Interpretation der Daten. Diese beiden Phasen sind durch eine enge Interaktion (siehe Abbildung 1) gekennzeichnet und sind nicht immer streng prozessual zu trennen. Häufig löst die iterative Visualisierungs- und Interpretationsphase eine Anpassung der vorhergehenden Phasen aus.

Der Markt für IT-Lösungen in diesem Bereich offeriert eine immer weiter wachsende Zahl an Anbietern und Social-Media-Analyse Werkzeugen. Um das geeignete Werkzeug für den eigenen Anwendungsbereich zu identifizieren, empfiehlt sich eine systematische Gegenüberstellung der Leistungsmerkmale, zusätzlich angebotenen Beratungsleistungen und Preismodelle. Für das Anwendungsfeld des Innovation Minings hat sich die Lösung des Technologieanbieters Insius als zielführend erwiesen. Abbildung 2 lässt die Bandbreite möglicher Visualisierungformate durch Nutzung von Dashboards erahnen. Ohne näher auf alle Detailauswertungen aus der Abbildung eingehen zu wollen, zeigt beispielsweise die Darstellung konzentrischer Kreise links unten die im Datensatz am häufigsten vorkommenden Konzepte: je häufiger ein Konzept vorkommt, desto näher liegt es am Kreismittelpunkt. Mit positiven Attributen belegte Konzepte werden in Grün, mit negativen belegte in Rot und mit neutralen Attributen belegte Konzepte werden in Gelb angezeigt. In der nebenstehenden Teilabbildung rechts unten sind die Konzepte alternativ angeordnet: in den jeweiligen Attributvarianten (positiv, neutral, negativ) sind sie nach ihrer Häufigkeit absteigend jeweils von links oben bis rechts unten abgetragen. Am rechten Rand der Teilabbildung befinden sich verschiedene Filter und Aggregationsoperationen, die die Researcher für die Untersuchung des Datensatzes verwenden können. Grundsätzlich fördert eine vielschichtige visuelle Aufbereitung die Erörterung alternativer Interpretationsansätzen und Denkprozesse.

Abbildung 2: Dashboard Visualisierungsformate

2.5 Methodische Einordnung

Die maßgeblich in dem letzten Jahrzehnt entwickelten Verfahren der sogenannten New Market Research haben für eine Neubelebung der Marktforschung für Innovation gesorgt. Immer mehr Verantwortliche in den F&E-Bereichen bedienen sich dieser Methoden, um die Anwenderorientierung der klassischerweise technologiezentrierten Forschungsarbeiten zu erhöhen und damit Marktrisiken bereits in den frühen Phasen der Produktentwicklung entgegenzutreten (Bartl et al. 2012). Einige Beispiele für neue Ansätze sind Online Research Communities, Ideenwettbewerbe, Toolkits, Netnography oder gamifizierte Konzepttests. Innovation Mining besetzt einen „white spot“ im Methodenmix, das dem Feld der quantitativen und beobachtenden Verfahren zuzuordnen ist (exemplarische Methoden siehe Abbildung 3). Dies ist ein methodisches Einsatzfeld von besonderer Relevanz in einem digitalen Zeitalter, in dem von Daten als das neue Öl des 21. Jahrhunderts gesprochen wird.

Abbildung 3: Methodische Einordnung

3. Es schäumt so schön – ein Anwendungsbeispiel aus der chemischen Industrie

Anhand einer Studie aus der Praxis erhält man tiefere Einblicke in das Innovation Mining. Evonik als Unternehmen in der Spezialchemie ist ein typischer B2B-Anbieter von Rohstoffen, die in verschiedensten Produkten beispielsweise der Konsumgüterindustrie eingesetzt werden. Im Geschäftsbereich Consumer Specialties liegen besondere Kenntnisse in der Beeinflussung von Oberflächeneigenschaften vor, die sich in einer Variation der Haptizität oder der Oberflächenspannung widerspiegeln lassen. Hierzu zählen beispielsweise das Griffgefühl bei Kosmetika, Möbel- und Fahrzeuginnenraumoberflächen, Textilien, Leder, Schaumhilfsmitteln bei Beton, Bier, Matratzen, Shampoo, Handspülmittel oder umgekehrt Entschäumer für beispielsweise Beton, Dieseltreibstoff, Maschinenspülmittel.

Abbildung 4 zeigt einige visuelle Darstellungen der Schaumwelten, in denen der Geschäftsbereich tätig ist. Für einen Rohstofflieferanten ist das Endkundenprodukt vielleicht noch bekannt, die Kundenmotivation erschließt sich nicht unbedingt. Auch bedingt durch die immer weiter gehende Verlagerung von Forschungsaktivitäten der B2C-Anbieter auf die B2B-Lieferanten sehen sich die Rohstofflieferanten immer mehr dem Wunsch und Zwang ausgesetzt, den Endkunden besser verstehen zu können, um ein “besserer” Forschungs- und Entwicklungspartner für die Konsumgüterindustrie zu werden und dadurch Differenzierungspotential gegenüber den Konkurrenten darzulegen. Die Zielsetzung des Innovation Minings bestand darin, die auf umfangreichen chemisch fundierten Wissen und Erfahrungen basierenden Eigenentwicklungen zu hinterfragen. Die User Beiträge im Netz, egal ob “richtig” oder “falsch” in der Darstellung, sollten einen neuen Zugang zu einer zielgerichteten und bedürfnisgerechten Forschungsdiskussion und damit Produktneuentwicklung bieten.

Abbildung 4: Schaumwelten im Bereich Consumer Specialties

Im Rahmen des Studiendesigns wurde die Suchstrategie auf das Feld „Schaum“ mit den zwei Unterbereichen „Schäumer” und “Entschäumer” ausgerichtet. Die zentralen Forschungsfragen waren: (1) Welche potentiellen Anwendungsfelder zeichnen sich durch die größte Inzidenz aus? (2) In welchem Kontext wird über Schaum gesprochen? (3) Wie lassen sich die Attributräume beschreiben und wie sieht eine usergenerierte Spezifizierung für den idealen Schaum aus?

In Zusammenarbeit zwischen Chemiker und Social-Media Researcher wurden Suchstrings inklusive aller Wörter, Wortkombinationen, Verknüpfungen mit Boolschen Operatoren und Abgrenzungstermina entwickelt, um die Datensammlung auszulösen. Ein Beispiel für einen derartigen Suchstring ist: (Schaum OR Schäumen OR Aufschäumen OR Schaumkrone) ANDNOT („vor Wut“)

Generell gilt es mit abstrakteren und dennoch im allgemeinen Sprachgebrauch vorhandenen Begriffen zu beginnen, um die möglichen Ergebnisse nicht zu sehr einzuschränken. Anschließend werden weitere Suchtstrings mit höherem Detailgrad entwickelt.

Die Anwendung der Suchstrings, die das Thema möglichst umfassend und gleichzeitig gezielt ansteuern, führte zu 342.678 User Beiträgen, die im deutschsprachigen Web identifiziert werden konnten. Alle Beiträge wurden anschließend einer breiten syntaktisch-semantischen Analyse unterzogen wurden. Im Einsatz offenbaren und verdeutlichen die Einzelschritte des Innovation Mining Prozesses für den Naturwissenschaftler die Ähnlichkeiten zwischen Cappuccino-Schaum, Polyurethanschaum für Schaumstoffmatratzen oder auch den Rasierschaum, die auf den ersten Blick nicht miteinander verwandt zu sein scheinen. Tatsächlich handelt es sich allerdings in allen Fällen um positiv bewertete, erwünschte, feinporige und über einen längeren Zeitraum stabile Schäume. Aus den unterschiedlichen grundlegenden chemischen “Rezepturen” kann der erfahrene Synthesechemiker Vergleichsdaten und Oberflächeneffekte ableiten, die zur Verbesserung bestehender Systeme oder zur Entwicklung neuer Schaumsysteme genutzt werden können. Abbildung 5 zeigt das Beziehungsgeflecht unterschiedlicher Schaumarten, die sich in den Daten widerspiegeln.

Abbildung 5: Relevante und ähnliche Schaumarten in der User Diskussion

An dieser Stelle soll exemplarisch eine Detailanalyse des Bierschaums herausgegriffen werden. Bier muss je nach Kulturkreis entweder eine schöne feste, stabile und feine Schaumkrone aufweisen, oder möglichst durch gar keinen Schaum gekrönt sein, z.B. in Großbritannien. Trotz Reinheitsgebot werden eine Vielzahl von Methoden und Hilfsmittel genutzt, um eben diesen unterschiedlichen Gebrauchsformen Rechnung tragen zu können. Dazu zählen insbesondere Filterhilfsmittel oder Flotationsmittel zur Abtrennung der Hefebestandteile. Durch den Einsatz des Innovation Minings sollten konsumentengestützte Spezifikationen für den „perfekten“ Schaum abgeleitet werden, die in entsprechende Forschungsprojekte bei Evonik umgesetzt werden sollen. Insgesamt wurden 10.010 Beiträge zu Bierschaum identifiziert. Die anschließende Kommentaranalyse führte zu in Abbildung 6 visualisierten Attributräumen, die bereits Polarität und Häufigkeit der Beiträge berücksichtigt.

Abbildung 6: Attributräume des Bierschaums

Als Hauptattribute wurden die drei Konzepte bzw. Cluster „Konsistenz“, „Haltbarkeit“ und „Menge“ generiert und automatisiert mit Begriffen und Eigenschaftsworten verknüpft. Die meisten Anwenderbeiträge bestehen rund um die Begriffswelt „feinporig“, „feinperlig“, „fein“, „fest“, „stabil“, „beständig“ und können den Konzepten Konsistenz und Haltbarkeit zugeordnet werden. Sowohl Hobby-Braumeister als auch intensive Biertester schätzen stabilen und beständigen Schaum, der als feste Masse das Bier nach oben hin abschließen soll. Ebenfalls in großer Anzahl aber in eher negativer Textkonnotation wird schnell zerfallender Schaum im Cluster Haltbarkeit diskutiert und gilt mithin als Ausweis schlechter Bierqualität bzw. eines nicht gelungenen Brauprozesses. Hinsichtlich der Menge ist eine Bandbreite akzeptabel, die weder zu viel noch zu wenig Schaum auch in Bezug auf die jeweilige Biersorte beinhaltet und  mit dem Begriff „Schaumkrone“ umschrieben wird. Die viel diskutierten Zapfanlageneinstellungen sind ebenfalls ein Einflussfaktor, der wiederum von der Evonik Produktentwicklung nicht beeinflusst werden kann.

Für die Interpretationsarbeit sind die eingesetzten Visualisierungs-Werkzeuge von großer Wichtigkeit. Diese Form des Datenoutputs erlaubt flexibel, spielerisch, hypothesengetrieben oder rein explorativ die Datenbasis zu durchforsten und auch Anpassungen in den vorangehenden Prozessschritten des Innovation Minings vorzunehmen. Abbildung 7 zeigt die beiden in Kapitel 2.4 bereits kurz erläuterten Output-Formate angewendet für das Innovationsfeld „Schaum“.

Abbildung 7: Themennetzwerk Schaum und Sentiments

Anhand des Überblicks der häufigsten Konzepte in der Darstellung konzentrischer Kreise konnten einige übergeordnete Schaumkontexte direkt identifiziert werden: Polyurethan-Schaum (PU-Schaum), Milchschaum, Bierschaum, Shampoo, Seifenschaum. Weitere Schaumarten deuten sich in Kontextworten wie Haut, Gesicht, Auto, Farbe oder Boden an. Anhand der alternativen Darstellung der Konzepte in Abbildung 7 wurden weitere Untersuchungen des Datensatzes angestrengt, um zusätzliche relevante Schaumarten zu identifizieren und die nutzergenerierten Diskussionen in ihrem Umfeld aufzuhellen. Diese flexible, hypothesengetriebene oder explorative Untersuchung wird durch die Funktionen der verwendeten Analysetechnologie unterstützt, die unter anderem die Aggregation und Entfernung von Konzepten, die Anzeige ihrer Attribute (gut, fest, schön, cremig…) oder die Auflistung der originären Beiträge, die hinter den Konzepten bzw. Attributen stehen, erlaubt. Im obigen Beispiel zeigte sich, dass sich zahlreiche Diskussionen um die Verwendung von Handseife für verschiedene Körperbereiche (Hand, Gesicht, Körper, Haare) drehten, in der die erlebte Schaumbildung eine zentrale Rolle spielt.

Analoge Analysen wurden für alle Schaumarten durchgeführt. Im Bereich Bauschaum wurde auf Basis der User Beiträge das Innovationsfeld einer notwendigen Verbesserung der Handhabbar- und Dosierbarkeit betont. Waschen geht ohne Schaum – Seife braucht keinen Schaum. In der Spülmaschine oder in der Waschmaschine ist Schaumbildung störend und hat keinen positiven Einfluss auf die Spül-/Waschleistung. Bei den Geschirrspülmitteln für das Handwaschbecken ist Schaum trotzdem für die Konsumenten unverzichtbar und dient – fälschlich – als Indikator für die Spülleistung. Der Schaum – genau wie bei der Haarwäsche – ist hoch emotionalisiert und unverzichtbar. Ein Kraftschaum ist eher grob-porig und wenig seifig, ein Pflegeschaum ist sehr feinporig, weich und hoch-volumig. Auch hier haben sich durch die Studienergebnisse und deren spätere Verifizierung durch “emotional design” Formulierungskonzepte ergeben, die bei B2B-Kunden positiv platziert werden konnten. Wir haben beispielsweise gelernt, dass ein wässriges Reinigungssystem, das mit der Haut in Berührung kommt, schäumen muss, hingegen darf ein öliges (hydrophobes) Reinigungssystem, das mit der Haut in Berührung kommt, nicht schäumen. Die gelernte Erfahrungswelt des Menschen dient hier als Leitmotiv; eine mit einem Neuprodukt zu induzierende Verhaltensänderung kommt einer komplizierten Umprogrammierung gleich und ist nur schwer markttauglich umzusetzen. Wenn sich technische Vorteile für den Endkunden direkt offenbaren, ist diese Akzeptanzschwelle einfacher zu nehmen – beispielsweise werden allen Dieselkraftstoffen Entschäumer zugesetzt, um ein schnelleres Betanken zu ermöglichen. Dem Endkunden ist diese vorteilhafte Nutzung von Entschäumern nicht bewusst – nur älteren Marktteilnehmern mag es noch in Erinnerung sein, dass vor 20 Jahren die Betankung eines Dieselfahrzeugs deutlich länger dauerte als heute, immer wieder musste man abwarten bis der Schaum zusammengefallen war und die Betankung weitergeführt werden konnte. Dieses Problem besteht heute nicht mehr durch die Nutzung moderner Entschäumersysteme – die durchaus auch Einfluss auf die Preisgestaltung und Motorlebensdauer von Dieselfahrzeugen haben können.

4. Ausblick

Die gewonnenen Studienergebnisse haben gezeigt, wie UGC als anwenderzentrierte Anleitung für die Produktentwicklung der Spezialchemieexperten genutzt werden kann. Das Innovation Mining ist dabei ein Prozess, der im Vergleich zu Interviews, Fokusgruppen oder Online Research Communities eine sehr große Zahl an Nutzeräußerungen berücksichtigen kann. Auch wenn die Methode auf hochautomatisierten und intelligenten Crawling und Machine-Learning Prozessen beruht, ist es ein gänzlicher Irrtum, anzunehmen, dass es möglich ist, Innovation auf Knopfdruck generieren zu können (Bartl & Ivanovic 2010). Insbesondere die Suchstrategie (Phase 1) und die Interpretation (Phase 5) sind Prozessstufen, die nur durch Einbringung menschlicher Kreativität, Erfahrung und Interaktion erfolgreich gestaltet werden können. Dies bestätigt einmal mehr, dass neue Technologien die Spezies der Marktforscher nicht ersetzen, sondern neuartige Werkzeuge liefern, die man in unterschiedlichen Wertschöpfungsphasen zum Einsatz bringen kann. Der Einsatz des Innovation Minings zur Gewinnung von User-generierten Spezifikationen für die Innovationsprozesse F&E intensiver Branchen ist ein aufregendes Beispiel hierfür.

Neben den inhaltlichen Ergebnissen konnten auch wertvolle Erkenntnisse hinsichtlich der Zusammenarbeit im Rahmen des Innovation Minings gewonnen werden. Es besteht die Notwendigkeit, ein übereinstimmendes Vokabular und gemeinsames Verständnis zwischen Chemikern und Marktforschern aufzubauen, um Ethnologie im Web in chemisches Entwicklungspotenzial zu überführen. Für die Social Media Forscher bestand die Herausforderung, ein außerordentlich breites und wenig beschränktes Begriffsduo wie “schäumen” und “entschäumen” in der Welt des Internets analytisch begreifbar zu gestalten. Erst die Kombination aus beiden Welten führt zu einer interaktiven Wertschöpfung zwischen den Disziplinen und gibt den Anlass, gewohnte Denkpfade zu verlassen sowie bestehende Konzepte zu hinterfragen und neu zu fundieren.

Für einen Rohstofflieferanten wie Evonik im B2B-Bereich wurde auch deutlich, dass die chemischen Wirkstoffe oftmals eine nachgelagerte Bedeutung gegenüber Werbung und Marketing einnehmen, wenn ein neues Produkt im Markt platziert werden soll. Spezifisch konnten aus den Ergebnissen zwei neue Schaumsysteme für Matratzen und für Haftklebstoffe abgeleitet werden, die ohne die Einbindung der „Stimme des Kunden“ im Verborgenen geblieben wären.

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5. Literatur

Bartl M., Füller J., Mühlbacher H., Ernst, H. (2012) : A Manager’s Perspective on Virtual Customer Integration for New Product Development, Journal for Product Innovation Management 2012.

Bartl M., Ivanovic I. (2010): Netnography – Finding the right balance between automated and manual research, in: Web-Monitoring, UVK Publishing, Konstanz.

Bräutigam, K.R.; Gerybadze, A.: Wissens- und Technologietransfer als Innovationstreiber: Mit Beispielen aus der Materialforschung. Heidelberg, Dordrecht, London, New York: Springer, 2011

Egger, M.; Lang, A.: A Brief Tutorial on How to Extract Information form User-Generated Content (UGC); in: Künstliche Intelligenz (2013) 27, S. 53-60.

Lütters, H.; Egger, M.: „Listening ist the new asking“: Social Media-Analyse in der Marktforschung; in Transfer Werbeforschung & Praxis 59 (4), S. 34-41.

Reichwald, R.; Piller, F. :Interaktive Wertschöpfung: Neue Formen der Arbeitsteilung. 2. Aufl. Wiesbaden: Gabler, 2009

Walter, A.: Technologietransfer zwischen Wissenschaft und Wirtschaft, Voraussetzungen für den Erfolg. Wiesbaden: Deutscher Universitäts-Verlag, 2003